Schaut man in die Anfänge der Filmgeschichte, wird schnell klar: Der Film begann als Kurzfilm. Werke wie „Die Reise zum Mond“ (1902), „The Great Train Robbery“ (1903) oder „Ein andalusischer Hund“ (1929) prägten das Medium nachhaltig. Sie waren experimentell, mutig und erreichten trotz ihrer Kürze ein breites Publikum. Heute hingegen wird der Kurzfilm häufig als Visitenkarte für Nachwuchsfilmschaffende betrachtet – ein Format mit begrenzter Reichweite, das vor allem als Sprungbrett zum Langfilm gilt. Doch Plattformen wie YouTube, Kurzfilmfestivals und Sendungen wie ARTEs „Kurzschluss“ zeigen, dass das Kurzformat längst mehr ist als nur eine Visitenkarte – es begeistert ein eigenes Publikum und behauptet sich als eigenständige Kunstform.
Was macht ein Kurzfilm-Drehbuch besonders?
In dieser Folge sprechen wir mit Axel Melzener – Drehbuchautor, Dozent und Autor des Fachbuchs „Kurzfilm-Drehbücher schreiben: Die ersten Schritte zum ersten Film“, das erstmals 2010 erschien und nun in einer aktualisierten Neuauflage vorliegt. In dieser neuen Ausgabe berücksichtigt Melzener aktuelle Entwicklungen der Branche.
Kurzfilmdrehbuch vs. Langfilmdrehbuch
Formal unterscheidet sich ein Kurzfilm-Drehbuch kaum von dem eines Langfilms: Formatierung und Aufbau bleiben identisch. Die entscheidenden Unterschiede liegen jedoch im Storytelling und in der Auswahl geeigneter dramaturgischer Modelle. Während die klassische Drei-Akt-Struktur gut auf Kurzfilme übertragbar ist, sprengt die Heldenreise den Rahmen: Zwölf Stationen in fünf bis zehn Minuten – schlicht nicht umsetzbar. Ein Problem, das Axel in der Lehre immer wieder beobachtet: Studierende werden vor allem an Langfilm-Dramaturgie ausgebildet, sollen jedoch im Studium Kurzfilme realisieren. Dieser Widerspruch wurde Axel besonders deutlich, als er fürs Fernsehen kurze Formate schreiben musste, die in wenigen Drehtagen und mit geringen Mitteln realisiert werden mussten. Daher hat er seine Erfahrung aus der Arbeit in der Branche in einem Buch verarbeitet, um diese Lücke ein Stück weit zu schließen.

„Der Hemingway-Trick“
Ein Kurzfilm braucht Fokus: wenige Figuren, wenige Schauplätze, ein klar definierter Kernkonflikt. Er lebt von Präzision. Ein häufiger Fehler junger Filmschaffender ist der Maximalismus – zu viele Ideen, Figuren und Wendungen in wenigen Minuten. Das führt fast unweigerlich zu Überfrachtung. Da Erfahrung, Zeit und finanzielle Mittel zudem meist begrenzt sind, ist eine zugespitzte, essenzielle Geschichte nicht nur sinnvoll, sondern notwendig. Ein starkes Kurzfilm-Drehbuch kann sowohl über pointierte Dialoge als auch über visuelles Erzählen funktionieren – wichtig ist, dass die Geschichte lückenlos durchdacht ist. Viele gute Kurzfilme wirken, als wären sie Szenen aus einem längeren Film. Dieses Gefühl entsteht, wenn sie sich auf einen entscheidenden Moment im Leben einer Figur konzentrieren – einen Wendepunkt, der eine ganze Welt mitschwingen lässt. Axel nennt dies den „Hemingway-Trick“. Wie in Hemingways Kurzgeschichten wird ein einziger intensiver Augenblick herausgegriffen, der exemplarisch für das Leben der Figur steht. Das kann ein Blick, eine Begegnung oder eine erste – vielleicht schicksalhafte – Entscheidung sein. Die Reduktion auf diesen Verdichtungsmoment erzeugt emotionale Tiefe und einen Sog, der das Publikum unmittelbar hineinzieht.

Das eigene Künstlerprofil schärfen
Für die meisten Filmschaffenden stellt sich irgendwann die Frage: Welche Art von Geschichten will ich erzählen? Die Geschichten, die man zu Beginn der künstlerischen Laufbahn erzählt, können das Bild prägen, das andere von einem als Filmemacher*in haben. Daher ist es sinnvoll, sich früh darüber klar zu werden, welche Erzählformen, Themenfelder und Genres einen am meisten interessieren. In diesem Zusammenhang spielen auch die eigenen Talente eine zentrale Rolle, denn Drehbuchschreiben umfasst viele Fähigkeiten: Figurenentwicklung, Dialoge und Struktur. Nicht jeder beherrscht alle Bereiche gleichermaßen gut. Vieles lässt sich mit Übung erlernen, doch sollten die eigenen Stärken erkannt und gezielt genutzt werden. Wer visuell stark ist, kann beispielsweise auch mit einem stummen Kurzfilm brillieren.
Ein ganz eigener Bereich beim Kurzfilm sind die Fan Filme, die in der Regel actionreiche Vorbilder haben und ein guter Weg sind, um die Fähigkeiten im Actionbereich unter Beweis zu stellen. Auch da darf allerdings die narrative Ebene nicht zu kurz kommen. Zudem muss einem bewusst sein, dass im deutschen Filmmarkt nur ein geringer Bedarf an Talenten in diesem Feld besteht, im Vergleich zu Ländern wie den USA, Frankreich oder Südkorea.
Insgesamt ist der Kurzfilm ein ideales Medium zum Lernen und Experimentieren. Gleichzeitig stellt er eine eigenständige Form des Erzählens dar, die viele Vorteile bietet. Wie ein Brennglas ermöglicht der Kurzfilm narrative Tiefe und die Konzentration auf ein zentrales Thema. Wie man dies konkret umsetzt, erfahrt ihr in diesem Buch – und wer dabei zusätzliche Unterstützung benötigt, findet in Axel Melzeners Werk eine wertvolle Hilfe.
Unser Gast
Axel Melzener | Drehbuchautor – LINK
Axel Melzener startete bereits als Schüler als Komponist für Videospielmusik in die Medienindustrie. Ab 1996 studierte er an der Filmakademie Baden-Württemberg. Seit 2002 ist er freiberuflicher Autor und schrieb Drehbücher für TV und Kino wie den mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichneten Horrorfilm „Schreie der Vergessenen“ (Pro7, 2011) und den international veröffentlichten Animationsfilm „Manou der Mauersegler“ (2019). Dazu hat er als Co-Autor mit Julia Neviandt Episoden für „Alarm für Cobra 11“ und alle Drehbücher der Noir-Detektivserie „Dunkelstadt“ (ZDFneo, 2020) verfasst. Die beiden schreiben auch historische Romane zusammen. An der IFS Köln und der HFF München ist er als Gastdozent tätig und hat mehrere Sachbücher zu medienbezogenen Themen verfasst.
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