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Das Filmmanifest | Von radikalen Programmen und die Wirkung auf den Film

22. April 2021

Denken wir an Dogma 95, die Manifeste des Surrealismus, das Oberhausener Manifest oder gar das kommunistische Manifest, begegnen wir radikalen Programmen. Diese Namen klingen in den Ohren. Die Personen, die dahinter stehen, brachen mit den Regeln und erschufen Neues. Doch braucht es für Umbrüche immer auch feste Programme? Gibt es solche Bewegungen in der gegenwärtigen deutschen Filmszene?

Filmmanifeste kommen und gehen. Was bleibt?

Was haben die deutschen Filmschaffenden Jakob Lass, Hanna Dose, Axel Ranisch, Isabell Šuba, Nico Sommer und Hanna Brinkmann gemeinsam? Sie kreieren, wie einige weitere Kolleg*innen auch, ihre Filme nicht auf der Basis eines festgelegten Drehbuchs, überlassen das Schicksal ihrer Indepdendent-Projekte keinen Förderanstalten und integrieren zufällige Ereignisse am Set in den fertigen Film. Das Ergebnis sind dokumentarische, authentische und doch fiktionale Mischungen aus Drama und Komödie. Axel Ranisch formulierte 2012 im Anschluss an seinen erfolgreichen Debütfilm Dicke Mädchen und zum Anlass der 50 Jahre nach dem Oberhausener Manifest, das Sehr Gute Manifest, worin es u.a. heißt: „Ein sehr guter Film hängt nicht vom Budget ab. Er entsteht in Freiheit, selbstbestimmt und unabhängig, quasi von glücklichen Filmautoren. Sehr gute Filme sind die Bio-Produkte der deutschen Filmlandschaft.“ Das klingt nach einem verlockenden Gütesiegel. Doch was steckt dahinter?

Ganz oben stand für diese Bewegung junger Berliner Filmschaffender von Beginn an die Befreiung von finanziellen Abhängigkeiten und die Lust am Experiment, das unvorhersehbare Dinge entstehen lässt. Das jährliche Achtung Berlin Festival trug ebenso für die Sichtbarkeit der losen Gruppe bei wie etwa ein Symposium des Deutschen Filmmuseums im Jahr 2014. Dort erklärte der Medienwissenschaftler Bernd Zywietz, dass der von ihm selbst mitgeprägte Begriff German Mumblecore eigentlich unglücklich gewählt sei und ruft zur Findung eines neuen Labels auf.

Denn German Mumblecore stelle deutsche Filmschaffende in den Schatten dieser ursprünglich in den USA benannten Praxis von Regisseur*innen wie Andrew Bojalski (z.B. Funny Ha Ha, 2002), Mark Duplass, Greta Gerwig und Joe Swanberg, die 2005 mit ihren Low-Budget Filmen beim South by Southwest Festival für erhöhte Aufmerksamkeit sorgten. Ihren Filmen, wie auch den der deutschen Kolleg*innen, ist gemeinsam, weiße Protagonist*innen in ihren Mitte 20ern aus der Mittelschicht ins Zentrum zu stellen. Meist geht es um Beziehungsgeschichten, die Liebe, das Leben. Die Teammitglieder der einzelnen Filmprojekte stehen im Austausch, gleich einer Gruppe an Filmstudierenden sind sie immer wieder in ähnlichen und neuen Konstellationen miteinander tätig. Jedoch einte die Mumbelcores kein dezidiertes Manifest: Die Formulierung blieb einfach, nachdem Bojalski sie anekdotenhaft in einem Indiewire-Interview fallen ließ.

Schauspielerin Greta Gerwig in „Hannah Takes the Stairs“ (2007) von Joe Swanberg ©Film Science

Improvisationen und das Private werden politisch

In Deutschland folgten dem Trend der Lo-Fi Filmpraxis hingegen auch explizit formulierte Manifeste. Neben Axel Ranisch erklärte Jakob Lass mit seinem Fogma-Team Visionen und Regeln für eine Art des Filmschaffens, für das u.a. „Reichtum in der Reduktion“ liegt, das auf enthierarchisierte Schaffensformen und ein Zusammenleben des Teams während des Drehs setzt. So entstanden die Impro-Film Love Steaks (2014) und Tiger Girl (2017). Die Improvisation sowohl der Darsteller*innen – darunter oft Laien – als auch des Teams hinter der Kamera ist fester Bestandteil, der Bruch mit Konventionen praktisch Programm.  In diesem Moment wird die Praxis des Filmschaffens politisch. Sie ist Ausdruck einer Haltung, die sich dezidiert den Mechanismen der Filmindustrie verweigert.

Tiger Girl von Jakob Lass ©Constantin Film Verleih

Das „Gemurmel“ steht im Gegensatz zu einem perfekten sprachlichen Ausdruck. Mit Spontaneität und Zufall arbeiteten auch bereits Klaus Lemke seit den 1960er Jahren oder Andreas Dresen, die von der jüngeren Impro-Generation auch als Inspiration genannt werden. In Kaptn Oskar (2013) lässt Tom Lass stolz Klaus Lemkes lobende Worte gegenüber seinem Film erklingen. Berlin als Drehort, Handkameras, Improvisation und ein loses Drehbuchgerüst finden sich natürlich in vielen anderen Filmen: z.B. Sebastian Schippers Victoria (2015) oder Nicole Gehrings Nico (2021), die in ihrem Stil und ihrer Vorgangsweise aber nicht Teil des Mumblecore bilden.

Manifeste generieren Aufmerksamkeit

Wozu dann eigentlich dieser Begriff? Labels und Manifeste tragen zweifelsohne dazu bei, Tendenzen und Filmschaffende sichtbar zu machen, da sie unter einem Namen und unter gewissen Vorzeichen mehr Aufmerksamkeit erlangen und diskutiert werden. Das soll aber auch keine Einschränkung bedeuten. Denn dass nach der Formulierung von Manifesten genauso schnell Brüche mit den Regeln derselben erfolgen, zeigte sich auch im Schaffen dänischen Dogma 95 Gruppe. Schlussendlich passt genau solch eine Vorgangsweise auch wieder zum generellen Programm des Regelbrechens. Bewegungen wie Dogma 95 oder die Mumblecore können zudem inspirierend für nachfolgende Filmemacher*innen sein. Georg Pelzer (Fluten 2019) begeisterte die Arbeitsweise von Lass und Co und deren Streben nach neuen Wegen (mehr dazu in unserer Folge 98).

Kreatives Paradies oder Selbstausbeutung?

Und wie steht es heute um das deutsche Gemurmel? In den letzten Jahren kamen So was von da von Jakob Lass (2018), Blind & Hässlich von Tom Lass (2017) oder Auf und Ableben von Luise Brinkmann (2020) oder Männer zeigen Filme & Frauen ihre Brüste von Isabell Šuba (2013) heraus. Doch können vereinzelte Preisgelder und kreative Erfüllung die fortdauernde Selbstausbeutung bezahlt machen? Wie steht es darüber hinaus um das Wirken der Bewegung auf die Sender? Axel Ranisch hat inzwischen jedenfalls mehrfach fürs Fernsehen gearbeitet, darunter zwei improvisierte Tatorte realisiert. 

Tatort – Babbeldasch | ©SWR / Martin Furch

„Diese Filme sind eine Provokation. Die werden etwas verändern. Die Sender sehen das und überdenken ihre Haltung.“ berichtete Filmjournalist Dennis Demmerle 2012 vom Achtung Berlin Festival und reflektierte gleichzeitig, welche Probleme die erhöhte Aufmerksamkeit von Bewegungen innerhalb der Branche mit sich bringen können: die Beliebtheit bei der Kritik erhöht nicht zwingend die Rezeptionszahlen. Dieses „Problem“ scheint die Zusammenarbeit mit Sendern eher auszuschließen. Und außerdem: Wie würde eine solche Kollaboration zu den Forderungen der Manifeste passen? Can the Master’s Tools Dismantle the Master’s House?

Wenn Manifeste Bewegungen auslösen können, machen sie jedenfalls sichtbar, dass etablierte Formen in Frage gestellt werden können und sollen. Damit sorgen sie für eine größere Diversität an Schaffensformen und sorgen für einen sehr wichtigen Teil innerhalb der Filmlandschaft.

Weiterführende Literatur/Links

Indiefilmtalk Folge 98 mit Georg Pelzer – LINK

Symposium des Deutschen Filmmuseums (2014) – LINK

Filmjournalist/wissenschaftler Urs Spörri über German MumblecoreLINK

Liste mit deutschen Mumblecore-Filmen beim Filmportal – LINK

Malte Wirtz Buch Das Leben ist kein Drehbuch – Filmemachen ohne Geld (2020) – LINK

Axel Ranisch Interview beim SWR2 (04.08.2018) – LINK

Brainflicks Podcast über u.a. „Ich fühl mich Disco“ von Axel Ranisch – LINK

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