Die Filmbranche gilt als kreativ, dynamisch und fordernd – aber familienfreundlich? Kaum. Für viele Filmschaffende scheint der Alltag am Set schwer vereinbar mit dem Familienleben. Laut einer Studie der Filmförderungsanstalt (FFA) empfinden nur 1 % der Befragten die Branche überhaupt als familienfreundlich. Für ein Arbeitsumfeld, das stark auf Teamarbeit angewiesen ist und unter Fachkräftemangel leidet, ist das ein alarmierendes Signal.
Dass es auch anders geht – in Theorie und Praxis – zeigen die Produzentinnen Lotte Ruf und Maritza Grass, mit denen Susanne in dieser Folge spricht. Im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF haben sie auf rund 200 Seiten die strukturellen Probleme der Branche analysiert und zahlreiche Lösungsansätze entwickelt, die Film und Familie in Einklang bringen. In Folge der Arbeit ist ein 20-seitiger Leitfaden für Produzent*innen entstanden, der mittlerweile in verschiedenen Produktionen zum Einsatz kommt.

Zwischen Familienleben und Filmset
„Wenn du arbeitest, bin ich alleinerziehend“ – dieser Satz, der während ihrer Recherche mehrfach fiel, bringt das strukturelle Problem auf den Punkt. Projektbezogenes Arbeiten, unregelmäßige Zeiten, kurzfristige Planungen, Zeit- und Gelddruck sowie fehlende Betreuungslösungen machen es schwer, Beruf und Familie zu vereinbaren.
Ein „Schema F“ für familienfreundliche Produktionen gibt es nicht – und genau darin liegt die Herausforderung. Der Leitfaden widmet sich zentralen Themen wie flexiblen Arbeitszeitmodellen, rechtlichen Grundlagen und Awareness. Viele Filmschaffende kennen ihre Rechte nicht vollständig und Gesetzestexte sind oft schwer zugänglich. Auch hier bietet die Arbeit von Lotta und Maritza eine Orientierung.
4-Tage-Woche, Jobsharing und kreative Lösungen
Doch welche konkreten Maßnamen können Produzent*innen ergreifen, um diesen Missständen entgegenzuwirken? Zu den konkreten Ansätzen gehören die 4-Tage-Woche und Jobsharing. Auch wenn Gewerke wie Regie, Szenenbild oder Produktion sich nicht strikt an eine viertägige Drehwoche halten können – da viele Aufgaben außerhalb der Drehzeit anfallen – sorgt dieses Modell dennoch für Entlastung, etwa durch die Verlagerung von Vorbereitungen auf den drehfreien Tag. Jobsharing bietet eine weitere Möglichkeit, Arbeitszeiten besser zu verteilen: Zwei Personen mit je 30 Stunden ersetzen eine 60-Stunden-Kraft – oft sogar günstiger, da hohe Zuschläge für lange Arbeitstage entfallen. Bei Reiseproduktionen kann dagegen eine kompakte 6-Tage-Woche sinnvoller sein, um Abwesenheiten zu verkürzen.

Weitere Maßnahmen reichen von Kinderbetreuung am Set über Rückzugsorte zum Stillen bis zu stillfreundlichen Kostümen. Lotte Ruf erzählt, dass die Idee zur Masterarbeit entstand, als sie bei einem Dreh erlebte, wie schwierig es für eine stillende Mutter war, Muttermilch abzupumpen und zu lagern – ein Detail, das bisher selten mitgedacht wird.
Zwar ist familienfreundliches Produzieren nicht kostenfrei – aber mit rund 1,3 % der Nettoherstellungskosten ist der Mehraufwand deutlich geringer als oft angenommen. Und manchmal erzielen schon kleine Dinge eine großer Wirkung – wie die Möglichkeit sich anonym oder namentlich mittels einer Awareness Box mitzuteilen und im offenen Dialog und Austausch mit dem Team zu bleiben.
Nicht nur Eltern profitieren
Am Ende betrifft das Thema alle: Die Vereinbarkeit von Privatleben und Beruf geht über die Elternschaft hinaus. Es geht um menschenfreundliche Arbeitsbedingungen in einer Branche, die oft an ihre Belastungsgrenzen stößt – und darum, Räume zu schaffen, in denen Fürsorge und Kreativität kein Widerspruch sind.
Unsere Gäste
Lotte Ruf | Produzentin – LINK
1996 in Düsseldorf geboren, studiert Film- & Fernsehproduktion an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Neben dem Studium ist sie Teil mehrerer, auch internationaler Festival-Jurys. Im Februar 2020 schloss sie ihren Bachelor in Filmproduktion an der FH Dortmund mit der historischen Webserie „Haus Kummerveldt“ ab, wofür sie mit dem FIRST STEPS AWARD ausgezeichnet wurde. Ihr Masterfilm „Another German Tank Story“ (rbb) wird in Shanghai und München Premiere feiern. 2022 gründete sie zusammen mit Regisseur Mark Lorei die Goldstoff Filme GmbH, wofür sie das Stipendium des Mediengründerzentrum NRW erhielten. Ihr Debüt, die Fortsetzung von „Haus Kummerveldt“ ist seit März 2024 in der ARD Mediathek verfügbar und wurde mit dem Grimme-Preis Spezial ausgezeichnet.
Maritza Grass | Produzentin – LINK
Maritza Grass ist eine Produzentin mit niederländischen Wurzeln, geboren im Saarland und aufgewachsen im mittelfränkischen Nürnberg. Sie studierte im B.A. Kultur- und Medienwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und im M.A. Film- und Fernsehproduktion an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF. Ihr Kurzfilm FREIE NÄCHTE wurde für den NEXT GENERATION SHORT TIGER ausgewählt und lief auf Festivals weltweit. Der Animationsfilm I AM A FLOWER feierte seine Weltpremiere beim 28. Black Nights Film Festival in Tallinn. Ihr Abschlussfilm DIE FEIGE SCHÖNHEIT feierte Weltpremiere bei den 58. Hofer Filmtagen und gewann den Preis für die Beste Bildgestaltung auf dem IFFF Dortmund+Köln. Maritza war VFF-Stipendiatin und ist Mitglied bei ProQuote Film. Im Jahr 2022 gründete sie Carousel Film. 2024 nahm sie an Match Me! Locarno, dem Cutting Edge Talent Camp und dem Breaking into the Industry Programm der Tallinn Industry Days teil.
Ähnliche Folgen:
#53 | Chancengleichheit: Nur ein Märchen?
#175/04 | Deutscher Film heute: Diversität und ein Blick in die Zukunft
#62 | Diversität im Film: Eine Podcast Sonderfolge
#61 | Diversität im Film: Noch immer ein Mythos?
Diversität in Film und Medien