Ob sanfte Streicher, die Spannung aufbauen, oder ein Song, der uns tief unter die Haut geht – Filmmusik ist ein zentrales dramaturgisches Element. Sie schafft Atmosphäre, lenkt Emotionen und verleiht Szenen zusätzliche Tiefe. Selbst ihre gezielte Abwesenheit kann Bedeutung erzeugen. Doch was passiert, wenn ein Film bewusst auf klassische Score verzichtet?

Wenn Musik erzählt: Klangwelten jenseits des klassischen Scores
In der aktuellen Folge dreht sich alles um Klang, Komposition und die narrative Kraft von Musik. Komponist André Feldhaus spricht mit Susanne über seine musikalische Arbeiten für den Spielfilm Gotteskinder von Frauke Lodders, der am 30. Januar in die Kinos kam.

Das beeindruckende Spielfilmdebüt erzählt die Geschichte zweier Teenager innerhalb einer evangelikalen Freikirche in Deutschland – einer radikal geprägten, sektenähnlichen Glaubensgemeinschaft, wie es sie auch hierzulande gibt. Die Handlung basiert auf realen Erlebnissen und Interviews mit Aussteiger*innen. Für ihre Recherche tauchte Frauke Lodders selbst für einige Zeit undercover in diese Welt ein und verschaffte sich ein genaues Bild. Darüber hinaus besuchte sie gemeinsam mit André Feldhaus Musikseminare, um zu lernen, wie emotional aufgeladene religiöse Songs entstehen – und um anschließend selbst welche zu komponieren.
Musik als gelebte Realität im Film
Aus dieser intensiven Vorbereitung heraus entwickelte André Feldhaus ein musikalisches Repertoire, das authentisch klingt und von den Schauspielenden akribisch einstudiert wurde. Doch die Musik in Gotteskinder kommentiert nicht – sie ist gelebte Realität. Die Regisseurin verzichtet bewusst auf einen klassischen Score und setzt stattdessen auf eigens komponierte Lieder, die direkt in die Handlung eingebunden sind. Die Figuren singen sie selbst – in Gottesdiensten, bei Proben oder im privaten Umfeld. Diese Musik ist Ausdruck einer Zugehörigkeit, die Sicherheit verspricht, aber auch Kontrolle und seelischen Druck ausübt.

Die Ambivalenz der Klänge
Gotteskinder zeigt eindrucksvoll, wie Musik zum Träger einer Ideologie wird – wie sie Gemeinschaft stiften, aber auch Grenzen ziehen kann. Besonders berührend ist die Ambivalenz, die sowohl in der Erzählweise als auch in der Musik spürbar ist. Die Glaubensgemeinschaft wird nicht eindimensional dämonisiert. Stattdessen zeigt der Film Eltern, die strenge Werte vertreten und gleichzeitig mit inneren Zweifeln ringen – getragen vom Wunsch, das Beste für ihre Kinder zu wollen. Die Musik fängt dieses Spannungsfeld ein: Sie bietet Geborgenheit und Gemeinschaft, aber auch Kontrolle, Enge und Macht.
Der Einsatz der Kompositionen ist in diesem Film mehr als musikalische Untermalung – sie sind dramaturgischer Motor. Sie machen das Unsichtbare hörbar, legen Machtstrukturen offen, schaffen Nähe und Distanz zugleich. Sie geben Einblick in ein System, das ebenso verführerisch wie zerstörerisch wirken kann. Der Film erinnert daran, welche erzählerische Kraft Musik im Kino entfalten kann – vor allem dann, wenn sie nicht kommentiert, sondern selbst erzählt.
LINK – W-FILM – Gotteskinder
Gast
André Feldhaus | Komponist
André Feldhaus wurde 1975 in Münster geboren. Die ersten musikalischen Schritte fanden am Klavier statt, als Teenager gründete er die Punkband „Mother‘s Ruin“, mit der er tourte und Singles und Alben veröffentlichte. Er absolvierte eine klassische Ausbildung am Klavier, Unterricht in Komposition, Harmonielehre und Musiktheorie und ein Studium der Film- und Fernsehwissenschaft und Germanistik in Liverpool und Bremen. Heute arbeitet André Feldhaus als freier Komponist für Film und Fernsehen. Seine Filmografie umfasst zur Zeit etwa 140 Musiken für Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilme, unter anderem für den WDR, den NDR, für ARTE und freie Filmproduktionsfirmen.
Ähnliche Folgen
#121 | Filmmusik: Freiraum und Vertrauen
#147 | Orphea in Love: Wenn die Oper zum „Sehr guten Film“ wird
#81 | Filmmusik: Arbeit im Kollektiv und der Weg zur guten Filmmusik