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Genrekonventionen als kreative Quelle

17. Dezember 2020

Genrekonventionen als kreative Quelle

Gerade jetzt, im Dezember, lesen und reden wir wieder viel über Weihnachtsfilme, oft kommt dabei auch das Thema „Genre“ zur Sprache – gibt es einen Typus von Weihnachtsfilm? Filme in Genrekategorien zu pressen, scheint oft überflüssig, beschränkend. In Wirklichkeit haben wir es aber pausenlos mit Genrekategorien zu tun, auch wenn diese nicht immer explizit ausgesprochen werden.

Von Erwartungen und Intuitionen

Lesen wir als Kinozuschauerinnen oder Streamingnutzerinnen in einer Beschreibung von einem Horror-, Liebesfilm, Polit-Thriller oder Historiendrama haben wir sofort gewisse Erwartungen gegenüber einem Film. Was wir uns etwa unter einem Horrorfilm vorstellen, müssen wir nicht jedes Mal hinterfragen, wir spielen intuitiv Erwartungshaltungen durch. Dieses Wissen ist kulturell angeeignet, wir lernen es, indem wir Genrefilme schauen. Beispielsweise hat der Großteil des deutschsprachigen Publikums wahrscheinlich mehr Vorstellung vom alpenländischen Heimatfilm als vom Martial Arts Film oder einer Nollywood Tragikomödie. So sicher wie Cottbus in Deutschland liegt wird ein genretreuer Weihnachtsfilm seine Handlung in der Weihnachtszeit ansiedeln. Um vom Großteil des Zielpublikums verständliche Genrekategorien kommen wir in Film- oder Serienbeschreibungen kaum umhin.

Links: Happiest Season – D: Clea DuVall – © 2020 CTMG; Rechts: Stirb langsam – D: John McTiernan – © 20th Century Fox

Oft werden die Begriffe Genre, Format, Welle und Label synonym verwendet, was besonders im Hinblick auf (Post-)Migrantisches und Queeres Kino auch seine problematische Seiten hat (genaueres dazu in Ep. 91 bzw. im Beitrag zu New Queer German Cinema). Die Verwendung von einzelnen Genrebegriffen ist aber nicht nur in der Rezeption und im Vermittlungs- und Distributionskontext relevant, sondern auch schon im Entstehungsprozess eines Films und wird für erzählerische und stilistische Entscheidungen richtungsweisend.

Die Mischung macht’s – ein Genre kommt selten allein

Ein Film ist selten exklusiv einem Genre zuordenbar, viel häufiger haben wir es mit Crossovers, mit Genremischungen zu tun. Aus neuen erfolgreichen Kombinationen entstehen dann auch oft eigene neue Genres, wie am Beispiel des Dark Dramas deutlich wird: Es verbindet das (Psycho-)Drama mit Elementen aus dem Horrorfilm, Thriller, Mystery oder Science-Fiction (vgl. Ep. 44 zum Dark Drama). Mark Wachholz erklärt, wie nach und nach einige Filme einem ähnlichen Stil folgten und so ein Genre für sich – das Dark Drama – entstehen ließen. Solche Schritt-für-Schritt Entwicklungen sind für die Geschichten einzelner Genres typisch. Wenn das Publikum nach einer Zeit von einem Erzählstil übersättigt ist, flaut ein Trend manchmal wieder ab – wie etwa die Rom-Com Welle um die 2000er zeigte –, bis neue Ideen aufkommen oder ein Kassenschlager wieder innovativere Formen anregt.

Berlin Alexanderplatz – D: – Burhan Qurbani – © Stephanie Kulbach

Wie können nun diese Beobachtungen fürs Filmschaffen relevant werden? Es lohnt sich, sich mit einer Reihe von Filmen zu beschäftigen, die einem Genre zuzuordnen sind: Wie geht ein Film mit Konventionen um? Wie beeinflusst die Konvention des final girls die Erzählung eines Slasher-Films oder welche Stimmung erzeugt typische Westernmusik? Wie kombiniert Single Bells (Xaver Schwarzenberger, AT 1998) den klassischen US-amerikanischen Weihnachtsfilmtypus mit komödiantischem österreichischem Lokalkolorit? Detailverliebte Genrefilme, experimentierfreudigere Mischungen, parodistische Elemente und Zitate auf vorangegangene Filme sind oft sichtbare Erfolgsrezepte von anerkannten Filmautor*innen. Quentin Tarantino spielt z.B. mit Elementen des Italowestern oder des japanischen Historienfilms und baut stets zahlreiche Verweise ein (mehr darüber in Ep. 58); Jessica Hausner kann ihr Publikum nur in die Irre führen, weil es die Erzählkonventionen von Genrefilmen so sehr verinnerlicht hat. Thelma und Louise (Ridley Scott, USA 1991) wurde zum großen Erfolg u.a. weil erstmals in einem Hollywood Roadmovie zwei Frauen hinterm Steuer saßen – Genrekonventionen sind nicht unabhängig von Gendervorstellungen (auch Thema des Genrenale Panels „Neu Deutsche Genreheld_innen“).

Parasite – D: Bong Joon Ho – © Koch Films

Ein wesentliches Merkmal, das jedes Genre auf unterschiedliche Weise prägt, sind seine Stimmung und Wirkung: Ein Melodram bringt uns zum Weinen, ein Horror zum Fürchten, ein Pornofilm zur Erregung, eine Komödie zum Lachen. Dass Parasite (Bong Joon-ho, KOR 2019) bei vielen Zuseher*innen einen so großen Eindruck hinterlassen hat, liegt auch an seinem unerwarteten Stimmungswechsel und seiner Kombination aus Genreelementen. Denn beim Schauen eines Films sind wir es gewohnt, tendenziell mit ein oder zwei Stimmungslagen konfrontiert zu sein, dementsprechend polt sich unsere Erwartungshaltung – nicht so bei Parasite!

Gegen Prestige und Hierarchie

Auch angesichts häufiger Neukombinationen und Brüche, gehen mit einzelnen Genres stets bestimmte Erwartungshaltungen und Konventionen einher. Im deutschsprachigen, Arthouse-geprägten Raum kam dem „nach Rezept gedrehtem“ Genrefilm lange Zeit ein schlechter Ruf bei: der Filmtheoretiker Rudolf Arnheim wertete das „Konfektionskino“ in den 1930er Jahren ab, stellte es als Gegensatz zu einem künstlerischeren Autorinnenfilm dar. Diese Ansicht prägte die Wertung von Genrefilmen noch lange Zeit und ist auch heute spürbar, wenn wir Autorinnen- oder Arthousefilm einem Mainstream, der mehr mit der Erfüllung von Konventionen in Verbindung gebracht wird, gegenüberstellen. Zugleich hat aber das kreative, nicht-abwertende Spiel mit Genrekoventionen dazu beigetragen, die Sicht auf Genrekinos zu verändern. Dazu tragen positiv auch Sektionen von Filmfestivals bzw. eigene Festivals wie die Genrenale bei.

Innerhalb des weiten Pools an Genrekategorien dominieren aber immer noch unterschiedliche kulturelle Wertungen, sodass Western oder Science-Fiction Filmen im öffentlichen Diskurs von vielen, v.a. von Seiten der Filmkritik, immer noch ein höheres Prestige zugesprochen wird als Liebesdramen oder Kinderfilmen. Gründe für dieses Ungleichgewicht sind in größeren gesellschaftlichen Schieflagen zu finden und leider nicht so einfach wegzuwischen (höre auch dazu Ep. 91). Inzwischen bleibt zu hoffen, dass solche Wertungen einmal der Vergangenheit angehören werden – ein Wunsch an den Geist der künftigen Weihnacht und ans beginnende neue Jahrzehnt.

Styx – D: Wolfgang Fischer – © Filmladen Filmverleih

Weiterführende Episoden, Panel und Artikel:

  • EP44 – Das Dark Drama und der deutsche Film – LINK
  • EP 91 – Vielfalt im Film – New Queer Cinema – LINK
  • #03 Genrenale Panel „Neue Deutsche Genreheld_innen“ – LINK
  • Beitrag: Was ist eigentlich New Queer German Cinema? – LINK

Literatur:

  • Braidt, Andrea B. Film-Genus: Gender und Genre in der Filmwahrnehmung. Marburg: Schüren, 2008.
  • Moine, Raphaëlle, Radner, Hilary & Fox, Alistair, Cinema Genre. Hoboken: John Wiley & Sons, Incorporated, 2008.
  • Stiglegger, Marcus (Hg.), Handbuch Filmgenre : Geschichte – Ästhetik – Theorie. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden: Springer VS, 2020.
  • Wachholz, Mark: Höllentrips aus der Postmoderne. Eine Bestimmung des Genres Dark Drama. Berlin 2104. – LINK

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