Filmwissenschaft und -theorie verstehen:
Ein kleiner Guide (2)
Im Zuge gesellschafts-politischer Veränderungen erweiterte auch die Filmtheorie ihre Ansätze um verschiedene Disziplinen. So wurde etwa im Zuge der Frauenbewegung der 1960er die feministische Filmwissenschaft etabliert, die heute um Aspekte der gender, queer und postcolonial studies ergänzt wurde. In ihren Anfängen war die feministische Filmtheorie noch eng mit ihrer aktivistischen Praxis verbunden. Fragen nach einem politischen, alternativen Filmschaffen wurden theoretisch erläutert und unterschiedlich umgesetzt. Filme wurden v.a. mithilfe der Psychoanalyse dekonstruiert und auf Repräsentationen weiblicher Figuren hin untersucht. Ein Anliegen der feministischen Filmwissenschaft ist es auch, weibliche Filmschaffende, die bis dahin nicht oder kaum beachtet wurden, sichtbarer zu machen.
Bis die Filmwissenschaft institutionalisiert wurde, dauert es noch bis in die 1970er. Davor wurde sie universitär in andere Fächer eingebunden bzw. bildeten sich Theorien oft im Umkreis von Zeitschriften wie Screen, Cahiers du Cinema oder Frauen und Film heraus. Diese boten somit auch außerhalb eines wissenschaftlichen Rahmens eine Plattform für verschiedene kunsttheoretische Ansätze.
Die Filmanalyse
Die Basis für jegliche Filmtheorie, seien es Auseinandersetzungen mit einem Genre oder mit speziellen Animationstechniken, bilden natürlich die Filme selbst, weshalb die Analyse ein wesentliches Instrument darstellt. Hierzu gibt es verschiedene Vorgangsweisen. Weit verbreitet ist der erstmals 1979 publizierte neoformalistische Ansatz von David Bordwell und Kristin Thompson, der an den russischen Formalismus anknüpft. Demzufolge vervollständigt sich ein Film erst während der Rezeption im Kopf des Zuschauers. Es wird also zwischen den Informationen, die ein Film explizit kommuniziert (plot) und denen, die das Publikum zusätzlich selbst ergänzen muss (story), unterschieden.
Für eine neoformalistische Analyse wird ein Film auf verschiedene formal-ästhetische (mise-en-scene) und technische Kriterien (Kamera, Schnitt, Ton) hin untersucht. Ein Experimentalfilm etwa gibt der story mit Sicherheit mehr Raum als etwa ein Politdrama, in dem es viel mehr um den nachvollziehbaren Verlauf der Handlung geht statt um ein formal-technisches Ausprobieren.
Der Einfluss des Kinos
Über die einzelne, formale Analyse hinaus setzt sich die Apparatus-Theorie mit den Bedingungen des Mediums an sich, seinem gesellschaftlichen Kontext und dem potenziellen Einfluss auf das Publikum auseinander. Durch den Illusionseffekt des Kinos (Apparatus) seien die Zusehenden von den Bildern, die stets auch (un-)bewusste ideologische Vorstellungen beinhalten, beeinflussbar (das wird beim Propagandafilm besonders deutlich).
Im deutschsprachigen Raum knüpfte die Filmtheorie besonders an die ideologiekritische und gesellschaftsanalytische Frankfurter Schule (Theodor W. Adorno und Max Horkheimer) an, die sich v.a. mit den Funktionen von Massenmedien auseinandersetzt. Mit den technischen Entwicklungen – Ton, Farbe, Fernsehen, Home Entertainment, Streaming etc. – und der steigenden Medienerfahrung des Publikums änderten sich natürlich auch die Voraussetzungen und der Komplex an Theorien.
Neue Medienerfahrungen
Im 21. Jahrhundert erweitern sich Filmtheorien zudem laufend um die veränderten gesellschaftlichen Lebensformen, sowie Möglichkeiten der Rezeption. Deshalb werden besonders Ansätze bedeutend, die die Position des Publikums miteinbeziehen (kognitivistische Filmtheorien), mehrere Disziplinen umfassen und intersektional vorgehen (intersektionale Ansätze beziehen verschiedene Formen der Unterdrückung in ihre Auseinandersetzungen mit ein). Theorien werden heute meist über den universitären, wissenschaftlichen Rahmen publiziert und greifen nicht selten auch auf Ansätze zurück, deren Ursprünge bereits weit in den Anfängen liegen.
Habt ihr noch Ansätze oder Ideen zu unseren kleinen Guide über die Filmtheorie und Filmwissenschaft? Dann schreibt diese gerne in den Kommentarbereich.
Weitere Beiträge und Folgen die sich mit der theoretischen Auseinandersetzung mit Film beschäftigen sind folgende:
- EP37 – Fantastisches in dunklen Sälen – Die Akzeptanz der Gesellschaft zum deutschen Genrefilm – Mit Filmtheoretiker Christian Alexius und Sarah Beicht
- EP47 – Die Darstellung des Scheiterns im Film und warum es vielleicht dazu gehört – Mit Dr. Claudia Peppel und Mirus Fitzner
- EP38 – „Please make me a real boy?“ – KI’s in SciFi-Filmen – mit Christoph Dobbitsch
Literaturempfehlungen Filmtheorie
Theodor W. Adorno & Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung
Jens Bonnemann: Filmtheorie: Eine Einführung
David Bordwell & Kristin Thompson: Film Art. An Introduction
Thomas Elsaesser & Malte Hagener: Filmtheorie zur Einführung
James Monaco: Film verstehen: Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films
und der Neuen Medien
Sue Thornham (Hg.): Feminist Film Theory: A Reader
Titelfoto von Luis Quintero von Pexels
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