Was ist eigentlich New Queer German Cinema?
Allgemein gesprochen werden unter dem Label Queer Cinema Inhalte von, mit und/oder über queere Personen gefasst. Als queer lassen sich Lebensweisen bezeichnen, die gesellschaftlich genormte Kategorien und Identitätsentwürfe hinterfragen und sich selbst nicht als festgeschrieben, sondern fluide begreifen; dies schließt sich als lesbisch, schwul, bisexuell, trans, inter identifizierende Personen mit ein. Für die positive Umbesetzung des zuvor negativ behafteten Begriffs sorgten Aktivist*innen in den 1980er Jahren.
Hollywood, die 1990er und ein New Queer Cinema
Nachdem queere Figuren und Filmpraxen die längste Zeit lediglich auf subtile Art nach Außen gedrungen waren – Star- und Fankulturen holten Darstellungen von Queerness, die aufgrund des Hays Code nicht zugelassen wurden, hervor – setzte das New Queer Cinema der 1990er Jahre radikalere Erzählweisen um: Mit diesem Begriff bezeichnete die Filmwissenschaftlerin B. Ruby Rich eine Reihe von US-amerikanischen Filmen, die selbstreflektiv queere Geschichten erzählten. Diese brachen meist mit glatten, positiven Darstellungen queerer Charaktere, um an ihre Stelle vielschichtigere, kantigere zu setzen. Als gemeinsames Merkmal stellte sie deren Zugang fest, etablierten Erzählmustern abzusagen und Queerness explizit zu thematisieren. Die Filme des New Queer Cinema hatten oft einen rebellischen Geist; sie waren Teil der Independentszene und feierten Festivalauftritte etwa am Sundance, erreichten aber über diese Nische hinaus noch keinen Mainstream. My Private Idaho von Gus Van Sant (1991) oder The Watermelon Woman von Cheryl Dunye (1996), Filme von Gregg Araki, Bruce la Bruce, Derek Jarman, Todd Haynes, Rose Troche lassen sich beispielhaft nennen.
Diese erste Welle verebbte noch in den 1990ern und erst in einer zweiten Welle im 21. Jahrhundert begannen queere Geschichten auch den Mainstream zu erreichen, z.B. durch Brokeback Mountain (Ang Lee, USA 2005), Transamerica (Duncan Tucker, USA 2005), The Kids Are Alright (Lisa Cholodenko, USA 2010) oder Carol (Todd Haynes, USA 2015). Die kompromisslose, radikalere Haltung der 1990er wich dem Einfluss dominanterer Erzählweisen: LGBTQI-Identiäten werden darin v.a. einer Mehrheitsgesellschaft erklärbar gemacht und suchen in erster Linie nach Akzeptanz. Dies begünstigt zwar oberflächliche Figurendarstellungen, andererseits erreichen diese Geschichten mit ihrer Herausforderung traditioneller, binärer Genderrollen und Genrekonventionen aber auch ein breiteres Publikum. Nicht zu vergessen ist dabei allerdings, dass diese Filme nur vereinzelte Beispiele sind und queere Geschichten, v.a. über schwule Lebensrealitäten hinaus, damals wie heute im Fernsehen, Streaming und Kino immer noch stark unterrepräsentiert sind.
Queere Filmwellen und Bewegungen in Deutschland
In Deutschland prägten queere Inhalte bereits seit der Weimarer Zeit die Filmlandschaft: z.B. Anders als die Andern (Richard Oswald 1919) – der als „world’s first homosexuell emancipation film“ gelten kann (Literatur siehe unten) oder Mädchen in Uniform (Leontine Sagan 1931). Die Filme dieser Zeit brachen bewusst mit den stereotypen Figurendarstellungen schwuler und lesbischer Charaktere wie Hollywood sie stets einsetzte (z.B. Tropen wie „der lustige Transvestit“ oder „die femme fatale“).
Das ein paar Jahrzehnte später folgende German Queer Cinema stand eng in Zusammenhang mit dem Neuen Deutschen Film ab den 1960ern, in dem Rainer Werner Fassbinder besonders prominent war. Das deutsche queere Kino der 1970er und 1980er nahm keine beschwichtigende Haltung gegenüber dem heteronormativen Mainstream ein, sondern zeigte sich radikal innovativ wie auch das US-amerikanische New Queer Cinema. Rosa von Praunheim (z.B. Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt, BRD 1971), Werner Schröter, Monika Treut, Ulrike Öttinger sind zu nennen; experimenteller arbeiteten Michael Brynntrup, Ursula Pürrer und Hans Angela Schierl. Einige von ihnen waren bzw. sind bis in die 1990er und darüber hinaus aktiv.
Ein Neues Queeres Deutsches Kino: bloßes Label oder neue Bewegung?
Heute ließen sich deutsche Filme wie Futur Drei (Faraz Shariat 2020), Kokon (Leonie Krippendorff 2020) und Neubau (Johannes Maria Schmitt 2020) mit dem Label eines New Queer German Cinema betiteln – worüber wir auch in Episode 91 sprechen. Diesen Filmen einer neuen Generation von Filmemacherinnen sind zugängliche Erzählweisen gemeinsam, die LGBTQI nicht mehr in erster Linie als Coming-Out Geschichten oder Konflikt zwischen Generationen problematisieren, sondern fluidere Identitäten entwerfen, positive Stimmungsbilder schaffen und intersektionale Ansätze sichtbar machen. Ebenso die Überlegung wie Queerness mit einer gewissen Beiläufigkeit erzählt werden kann, scheint diese Filmemacherinnen begleitet zu haben – auch darüber sprechen wir in unserer Episode mit Skaid Loist, Paulina Lorenz und Kai Spieck.
Ähnliche Zugänge lassen sich auch – aber leider nur vereinzelt – in Serien wie z.B. Sex Education (Netflix, seit 2019) finden. Transparent (2014-2019), Pose (seit 2018) und Little Fires Everywhere (2020) haben über Streaming-Plattformen ebenso Erfolge gefeiert und es bleibt zu hoffen, dass auch im deutschsprachigen Raum viele queere Stimmen laut werden und dabei nicht stets miteinander verglichen oder in eine Label- oder eine Genrebezeichnung gepresst werden zu müssen.
Let’s talk about it:
Schreibt uns in den Kommentaren gerne, welche queeren Filme ihr empfehlen könnt oder welche Queer Cinema Bewegungen in anderen Ländern euch geläufig sind. Was tut sich etwa in Argentinien (z.B. End of the Century von Lucio Castro, 2019) oder Kenia (z.B. Rafiki von Wanuri Kahiu, 2018)?
Berichtet uns außerdem von euren eigenen Projekterfahrungen: Wie geht ihr mit dem Labeling als „queer“ um? Wie könnte die Repräsentation von queeren Charakteren eurer Meinung nach gesteigert werden?
Wir sind gespannt und freuen uns auf Austausch!
Literatur:
- Brunow, Dagmar & Simon Dickel (Hg.), Queer Cinema, Mainz: Ventil 2018.
- Juett, JoAnne C., & David Jones (Hg.), Coming out to the mainstream: New queer cinema in the 21st century, Cambridge Scholars Publishing 2010.
- Kuzniar, Alice A, The queer German cinema, Stanford University Press 2000.
- Rich, B. Ruby, New Queer Cinema : The Director’s Cut, Durham [u.a.]: Duke Univ. Press, 2013.
Weitere Episoden/Links:
- Beitrag: Diversität in Film und Medien https://indiefilmtalk.de/episodes/all-stories-matter-diversitat-in-film-und-medien/
- EP84 | 1 – Ein Blick auf die Vielfalt in der Filmszene: https://indiefilmtalk.de/episodes/ep84-1-vielfalt-und-diversitat-in-der-filmszene/
- EP84 | 2 – Ein Blick auf die Vielfalt in der Filmszene: https://indiefilmtalk.de/episodes/ep84-2-ein-blick-auf-die-vielfalt-und-gleichberechtigung-in-der-filmszene/
- EP61 – Die Diversität im Film, noch immer ein Mythos? https://indiefilmtalk.de/episodes/ep61-die-diversitaet-im-film-noch-immer-ein-mythos/
- Filmlöwin-Podcastfolge zu Queer Romance: https://filmloewin.de/folge-4-my-days-of-mercy-und-queer-romance/
- CUTS – Podcastfolge zu Futur Drei: https://cuts.podigee.io/62-futur-drei
Filme im Titelbild: Futur Drei (Faraz Shariat 2020) ©Salzgeber, Kokon (Leonie Krippendorff 2020) ©Salzgeber und Neubau (Johannes Maria Schmitt 2020) ©Salzgeber
4 Antworten
Danke für diesen interessanten Artikel zum New Queer German Cinema! Mir ist die Bewegung bisher nicht geläufig gewesen und ich bin über diesen Artikel gestolpert, da ich gerade nach Queer Produkten gesucht habe, die ich kaufen wollte. Ich werde mich mal mit einigen der hier aufgezählten Regisseur*innen beschäftigen!